Dokument Pdf: Ist die Verdopplung der Röhren am Gotthardtunnel mit der Bundesverfassung vereinbar?
Für den ehemaligen Bundesrat Leuenberger, der früher auch UVEK-Leiter war (siehe Interview im Tages Anzeiger vom 30. Dezember 2015), ist der Bau einer zweiten Röhre beim Gotthardtunnel verfassungswidrig. Die Bundesrätin Leuthard und heutige UVEK-Leiterin hat vor einigen Tagen hingegen dessen Verfassungsmäßigkeit bekräftigt.
Das Thema ist von politischer und institutioneller Bedeutung, aus diesem Grund haben wir in einem kurzen Schreiben die wichtigsten Aspekte im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und Übereinstimmung mit europäischen Verträgen zusammengefasst.
Mit dem am 28. Februar 2016 zur Abstimmung stehendem Gesetz wird dem Bau des Tunnels und der Nutzung von nur zwei Fahrspuren zugestimmt. Die Verfassung verbietet eine Erhöhung der Kapazität und durch eine zweite Röhre wird die Kapazität zunehmen. Der Bundesrat vertritt die Meinung, dass die Kapazität nicht zunehme, da zwei Fahrspuren nicht genutzt werden können. Er verwechselt das Konzept der Kapazität mit dem der Kapazitätsnutzung. Die Kapazität, auf die sich der Artikel der Verfassung bezieht, betrifft die realen, physischen Eigenschaften. Die Kapazität bzw. das Fassungsvermögen einer Flasche wird durch ihr Innenvolumen dargestellt. Sollte ein Gesetz es verbieten die Flasche ganz zu befüllen, verringert dies nicht ihre Kapazität, sondern begrenzt einfach deren Nutzung. Es ist der Lauf der Dinge, vor allem im Straßenbau, dass einmal geschaffte Kapazitäten auch genutzt werden. Der Verfassungsartikel verhindert eine reale bzw. physische Erhöhung der Kapazität, da dies die einzig realistische Maßnahme ist, damit Waren mit der Bahn transportiert werden.
Das zur Abstimmung stehende Gesetz ist offensichtlich verfassungswidrig. Zum Bau einer zweiten Röhre ist eine Änderung der Verfassung notwendig und somit die Mehrheit aller Kantone und nicht nur des Volkes. Mit dem Referendum wird die Schweizer Bevölkerung darüber entscheiden, ob der zweite Tunnel gebaut werden soll, jedoch ohne eine Zustimmung der Kantone, wie eigentlich von der Verfassung gefordert wird. Mit einem Ja zur Verdopplung würde die Schweizer Bevölkerung auch eine Umgehung der Kantone beschließen. Die Abstimmung über den Gotthardtunnel wäre somit als ein erster Frontalangriff auf die Befugnisse und Hoheitsgewalten der Kantone und vor allem der kleinen Kantone anzusehen.
In der Schweiz sind die Ballungsräume angewachsen. Randgebiete und kleine Kantone haben an wirtschaftlicher Bedeutung eingebüßt, dank der konstitutionellen Befugnisse aber nicht an ihrem politischen Gewicht. Viele fragen sich, ob es noch Sinn macht, dass kleine Kantone einen so hohen politischen Einfluss haben.
Die Abstimmung zur Verdopplung der Röhren am Gotthardtunnel ist auch ein typisches Beispiel für regionale Interessen (die Bevölkerung kleiner Kantone verteidigt den Alpenraum), die mit den Interessen der Globalisierung aufeinanderprallen. Das aktuelle politische und auf Kantonen basierende System stellt für die Denkweise der großen schweizerischen Firmen ein Hindernis dar. Diese befinden sich größtenteils in ausländischen Händen und haben sich an strategische Entscheidungen anzupassen, die anderswo getroffen werden.
Man will nach den Alpen greifen und hierzu sind Uri, Schwyz, Unterwalden und die anderen kleinen Kantone auszuschalten. Die Abstimmung über die Verdopplung könnte das verminderte politische Gewicht der kleinen Kantone bescheinigen und der Anfang bedeutender institutioneller Veränderungen sein, wie z.B. eine Verfassungsänderung mit einer Zustimmung nur durch das Volk.
Domenico Zucchetti, lic. iur. HSG, Vizepräsident von RailValley